Limbo Viktoriia Vitrenko
(Redaktion Sven-Ingo Koch)
Maria Kalesnikava gewidmet
Wie geht es dir?
Eine einfache Frage, auf die man keine einfache Antwort geben kann. Eine Frage, auf die man keine Antwort hören will.Eine Frage, auf die ich seit über sechs Monaten keine Antwort bekommen habe.
Ich lese die Nachrichten von dem »Superstar des Jahres«, dem Coronavirus, von fortwährenden, mich zur Verzweiflungtreibenden Lockdowns, von der zerplatzten Demokratie-Bombe in Belarus, und drehe mich in den politischen Debatten mit jenen Geiern, die von der Weltunruhe profitieren wollen. Auf der vergeblichen Suche nach einer Antwort. Ich fühle mich zerrissen und frage mich, mit welchen Worten, mit welcher Musik dieser Zustand beschrieben werden könnte.
Dabei zwingt mich die anhaltende Entwicklung der aktuellen Pandemie, in mein Innerstes hineinzuhören und mich mit mir selber auseinanderzusetzen.
Und was finde ich dort? Einerseits ist es eine unglaubliche Ruhe–so ruhig, dass sie an der Grenze zum Atemstillstand ist –, anderseits eine schreiende Sehnsucht nach Leben und Lebendigkeit. Ich spüre jedoch, dass gerade in diesem grenzhaften Zustand neue Prozesse geboren werden. Belarus. Was für mutige Menschen! Wo finden sie ihre Kräfte, gegenüber einem brutalen Regime stark zu bleiben? Und meine gute Freundin? Inmitten des ganzen Geschehens, seit inzwischen sechs Monaten in Haft. Allein, eingesperrt, aber doch nicht gebrochen.
Wie geht es dir?
Ich habe einen großen Drang zu schreien, darf aber nicht–gerade wurden neue Ausgangs- beschränkungen verhängt, und meine Nachbarn schlagen stets gegen die Wand, wenn ich Musik mache. Und so krieche ich erneut zu meinem E-Klavier, setze die Kopfhörer auf und versuche, mich heranzutasten. Chopin geht nicht–zu romantisch, Rachmaninoff–zu pompös, Bach–schon so viele Tote seit Pandemiebeginn. Ich suche etwas Einfaches, nur wenige Akkorde (kann Neue Musik das überhaupt?) und die Stimme schwebt ungewollt gleich dazu. Aber ganz leise summe ich vor mich hin,damit keiner mich hört–meine Trostlosigkeit ist aktuell eine der ganzen Kultur.
Dabei komme ich mir andererseits vor wie ein Singer-Songwriter, wie eine Kabarettistin oder–noch besser–wie eine Königin, die die Bühne für sich allein beherrscht. Wie schade, dass es hier niemanden gibt, der mir dabei zusehen könnte. Ist doch ziemlich virtuos, zu spielen und gleichzeitig zu singen. Auch wenn–oder gerade: weil–es so »simpel« ist, kommt es aus der Vielschichtigkeit der Neuen Musik. Ich schaue in mich hinein, in einen Ort zwischen Lebendigkeit irgendwo da draußen und Todesangst hier drinnen, in einen mysteriösen Ort–einen Limbo.
Wie geht es dir?
Und ich versuche, diesen Limbo zu verstehen. Da ist er–ein Punkt, an dem ich nicht mehr das eine oder andere empfinde. Eher empfinde ich beides gleichzeitig. Lebendig und tot. Und in diesem Moment habe ich das Gefühl, Schrödingers Katze zu sein, die möglicherweise nicht lebt und doch lebt. Als Beobachterin kann ich aber nicht verstehen, in welchem dieser Zustände ich gerade bin.
Eingesperrt in dieser »Zwischenwelt« entsteht die Idee zu einem neuen Projekt.