So liegt ein pandemisch geprägtes Festivalprogramm vor uns, noch dichter als sonst, weil einiges aus dem letzten Jahr noch gesagt werden musste, weil das künstlerische Ausdrucksbedürfnis angesichts bedrängender Weltereignisse groß ist, weil inhaltliche Weichenstellungen dramaturgische Ergänzungen eingefordert haben und nicht zuletzt, weil Künstler:innen im internationalen Festivalkontext eine andere Aufmerksamkeit zuteilwird als in singulären Projekten. Diese Ihre Aufmerksamkeit wollen wir natürlich ermöglichen.
Die künstlerischen Reaktionen auf diese herausfordernde Zeit sind denkbar unterschiedlich. Abendfüllende Werke lassen uns die Ausdehnung von Zeit nachvollziehen und lenken unsere Ohren gleichsam mit der Lupe auf kleinste Differenzen und Reibungen, fokussiert und konzentriert auf die Schönheit von Details. Andere Werke packen die technischen Errungenschaften der »neuen Realität« spielerisch beim Schopf und entführen uns in ein hybrid-digitales Abenteuer. Und es gibt Musik, die sich unberührt von der pandemischen Situation völlig selbstbezüglich entfaltet. Auch in diesem Jahr bildet das Festival somit eine große Vielfalt dessen ab, was aktuell in der Welt der Neuen Musik relevant, drängend oder fragend im Raum steht.
Wer unsere Arbeit in den letzten beiden Jahren verfolgt hat, konnte zwei Stränge als besonders prägend erleben. Zum einen der Auftrag, den unsere Kollegin und Freundin Maria Kalesnikava uns quasi übermittelt hat, nachdem wir im Sommer 2020 ihr charismatisches und powervolles Eintreten für Demokratie mit wachsender Hochachtung und Anteilnahme verfolgt und ihren zum Mythos gewordenen Entschluss betroffen akzeptiert haben, als Dissidentin im Gefängnis mehr für ihre Heimat zu bewirken denn als Musikerin in Stuttgart. Erneut richten wir also einen Fokus auf Belarus, laden belarusische Künstler:innen ein, mit den Mitteln der Musik, Lyrik, Visueller und Konzept-Kunst ein differenziertes Bild ihrer Situation zwischen Exil und Widerstand zu zeichnen. Die dramatischen Entwicklungen in Osteuropa lassen befürchten, dass wir wieder auf einen nachhaltigen Ost-West-Konflikt zusteuern. Umso wichtiger ist der Austausch auf zivilgesellschaftlicher Ebene, das Verstehen des Lebens in patriarchalisch und autokratisch geprägten Gesellschaften. Einen beeindruckenden Einblick gibt Sergej Shabohins Installation »Practises of Subordination« (Konzert 13), die ebenso enigmatisch wie aufschlussreich das Leben in der Diktatur beleuchtet und deren Bildsprache auch dieses Vorprogramm durchzieht.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit sozialer Distanzierung und den digitalen Kommunikationsmitteln, die daraus erwachsen sind. So sind Formate entstanden, die die traditionelle Konzertform sicherlich dauerhaft ergänzen werden. ECLAT ’21 hat gezeigt, dass das Online-Veranstalten eigene Reize entwickeln und ein spannendes Festival hervorbringen kann. Wie wir das hoffentlich in unsere Säle strömende, Booster- und FFP2-bewehrte 2G+ Live-Publikum mit einem weltweiten Online-Publikum verbinden können, steht 2022 im Zentrum. Gemeinsam mit den Protagonist:innen des Festivals erfinden wir einen eigenständigen Bühnenraum für den Computerbildschirm, der die individuelle Aura jedes einzelnen Werks ins Digitale übersetzen soll. Mit besonderen Filmperspektiven, Text- und Video-Animationen, Collagen, hybriden und interaktiven Musiktheater-Formaten sollen spannende Konzertereignisse und ein informatives und kommunikatives ECLAT-Portal entstehen, das dem nahen und fernen Publikum ein anregendes Festivalerlebnis ermöglicht.
Diese hybride Verbindung der lokalen Konzerte mit ihrer aufwändigen Online-Präsentation wird uns durch die Förderung der Baden- Württemberg Stiftung ermöglicht, der wir hiermit ebenso herzlich danken wie allen im Innenteil des Programms erwähnten Förderern.
Es wird herausfordernd sein, das ganze komplexe Programm der sechs Festivaltage wahrzunehmen. Aber zum Glück haben wir nicht nur 21, sondern 42 Veranstaltungen, und die in Echtzeit gestreamten Konzerte werden noch einige Wochen »on demand« im Internet verfügbar sein. Entwickeln Sie also Ihre eigene Festivaldramaturgie–und entscheiden Sie auch selbst, welchen Mengenrabatt Sie sich erlauben wollen, den wir Ihnen bislang immer durch Festivalpässe haben zukommen lassen, was–wiederum der Pandemie geschuldet–dieses Mal nicht sinnvoll ist.
Wir freuen uns auf Sie, wenn in wenigen Tagen der Vorhang in unserem Web-Portal und die Türen im Theaterhaus sich öffnen: Willkommen bei ECLAT 2022!
Ihre Christine Fischer Künstlerische Leitung und das gesamte Team von ECLAT