One line

Isabel Mundry: FiguraFragment 1

für zwei B-Trompeten

(2022)

Figura ist eine Komposition darüber, wie sich das eine im andern zeigt, wie es Ahnung oder Spur ist oder erneuerte Gestalt.

Es ist ein Stück, das in Fragmenten entsteht, das langsam wächst, auch als Work in Progress gemeinsam mit den beiden Interpreten.

Wesentliche Impulse gingen aus meiner Auseinandersetzung mit Musik aus Oralkulturen hervor, darunter vor allem den Gregorianischen Gesängen und ihren Echoräumen in späteren, notierten Werken, bis hin in die frühe Renaissance. In Musiktraditionen, die sich durch ein Zusammenspiel von Hören, Erinnern und Performanz fortsetzen, sind Klanggestalten nicht allein Ausdruck, sondern ebenso Abdruck von etwas. Sie sind Gesten eines Aufnehmens und Weitertragens, dabei passiv und aktiv zugleich. Seit ein paar Jahren arbeite ich an Techniken, um vergleichbare Vorgänge und Formen auch im Komponieren zu stimulieren. Mit ihnen entwerfe ich Gesten und Gestalten, die an anderen Stellen zurückkehren und dabei nachhallen, neu einwirken oder sich erst verwirklichen. In dem einen Moment fließen sie aus meiner Hand, in einem anderen werden sie mir selbst zu einem fremden Gegenüber, weil eine Gestimmtheit, aus der Gesten hervorgehen, nie wiederholbar ist. Sie oszillieren zwischen Reaktion und Öffnung. In diesem Stück entfalten sich Gesten und Gestalten zwischen zwei Trompeter:innen, die in unterschiedlichen Konstellationen einander zugewandt oder voneinander abgewandt stehen. Dadurch stellen sich zwei komplementäre Zustände ein, zwischen einem synchronisierten Zählen und einem hörenden Reagieren.

»Urbild, Abbild, Scheinbild, Traumbild sind Bedeutungen, die immer mit figura verknüpft bleiben« schreibt Erich Auerbach und sieht die Formwerdung dieser Gedankenfigur vor allem in den Werken von Lukrez und Ovid.
Isabel Mundry