One line

Robin Hoffmann: Anonyme Bestattungen

Version für Kammerensemble (Ascolta-Fassung)

(2020/2021)

Mit besonderem Dank an Lydia Balz für ihre Kompositionsassistenz bei der Ausarbeitung der Urfassung.

Die Komposition entstand aus dem Bedürfnis, eine Musik zu schreiben, die einen mit allem alleine lässt, ohne sich dabei einsam fühlen zu müssen. Eine Musik für Bestattungenim Gedenken an diejenigen, die sich der Erinnerung entzogen haben. Keine Musik, die Trauer ausdrückt, keine Musik, die Stimmungen erzeugt oder verstärkt, sondern eine Musik, die Ich-fern ist, die hinter die Empfindsamkeit zurücktritt, um Raum für das Empfinden der Anwesenden zu lassen und diesen schließlich die Möglichkeit gibt, »das schweifende Hören auf sich selbst zu richten« (Ernst Bloch).

Angewendet wird elementarer Kontrapunkt. In seiner Regelhaftigkeit kühlt er freundlich zugewendet das zerrüttete Gemüt. Ausgangspunkt bilden Skalen aus zwei irregulären Intervallabfolgen, die durch eine Aufspaltung des chromatischen Totals gewonnen wurden und zwischen denen, nach mehrfachen Verschiebungen gegeneinander, unterschiedlich große Schnittmengen der Tonhöhen entstehen. Auf der Basis einer solchen harmonischen Disposition wurde eine überdimensionierte Sammlung von Zweistimmigkeiten erarbeitet, in der unentwegt variiert, in vielfältigen Ableitungen, immer unterschiedlich und doch ähnlich der gegebene Tonraum durchschritten wird. Nichts wiederholt sich, aber es ändert sich auch nichts.

Die Entstehungszeit der Komposition umfasst sehr genau die Zeit der inzwischen zwei Jahre andauernden Corona-Pandemie. Zu Beginn stand ein kooperatives Projekt mit der Musikschule Bietigheim-Bissingen im Auftrag des Netzwerks Neue Musik. Angedacht war, einen musikalischen Beitrag von Schülerinnen und Schülern der Musikschule bei Bestattungen anzubieten, die in der Gemeinde Bietigheim für diejenigen stattfinden, die entweder nicht genannt werden wollen oder die sich eine andere Bestattung finanziell nicht leisten können.

Zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 kam es zu Begegnungen, Begehungen, Verabredungen, mit denen ein Rahmen für die neu zu entwerfende Musik gefunden werden sollte. Nicht eingeplant war der anschließende erste Lockdown, der, wie in so vielen Fällen, die Planung gehörig durcheinanderwirbelte. Das Kompositionsvorhaben blieb, doch Ort und Menschen entfernten sich, der flächendeckende Stillstand grub sich in die Konzeption des Stückes ein. Die geringen Reichweiten, aber auch das andauernde entwicklungslose Kreisen um sich selbst dürften beträchtlich zu der Idee beigetragen haben, ein Musikstück zu entwerfen, dass in seiner Gänze gar nicht recht erfasst werden kann.
Robin Hoffmann

 

Hinweis für den Konzertbesuch
Wie fasslich ist eine Dauer von 4½ Stunden durchgestalteter musikalischer Zeit? Diese Frage darf individuell beantwortet werden. Das Stück ist lang, will aber auch nicht zwingen. Darum ist es möglich, jederzeit den Saal zu betreten und zu verlassen. Empfehlenswert ist in einem solchen Fall, den Konzertbesuch nicht ab-, sondern nur zu unterbrechen, um ein zweites oder drittes Mal zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu erscheinen. Die Verweildauer sollte 30 Minuten nicht unterschreiten, um ein Gespür für die Wandlungen im Gleichförmigen zu entwickeln.
R.H.