One line

Valerio Sannicandro: VISIOFICTIO

(2021)

Zur Ästhetik

Es kaum möglich, dies in Worte zu fassendoch ohne Zögern kann ich sagen, dass die Ursprünge meiner Musik tief mit der Idee des Raums verbunden sind. Jenseits aller phänomenologischen oder rein intuitiven Bedeutungen stellen Raum und Räumlichkeit musikalische Aspekte dar, die ich seit mindestens 2003 erforsche und deren kraftvolle Poesie immer wieder einen starken Einfluss auf mein musikalisches Denken ausübt. Meine Neugierde auf die enge Interaktion zwischen akustischen Instrumenten und Live-Elektronik brachte mich in einige der interessantesten Institutionen Europas (IRCAM, SWR Experimentalstudio Freiburg, ZKM Karlsruhe, GRM Paris, ICST Zürich). Ich traf dort engagierten Menschen, mit deren Hilfe ich wertvolle Erfahrungen machen konnte, für die ich immer dankbar sein werde. Denn später habe ich viele Errungenschaften aus der Praxis der elektronischen Musik in mein eigenes musikalisches Vokabular übertragen. Ich habe auf diesem Weg Werke für verschiedene Räume konzipiert, Instrumental- und Vokalwerke basieren auf spezifischen raumbezogenen musikalischen Figuren.

(Valerio Sannicandro)

 

VISIOFICTIO

Vor einigen Jahren entdeckte ich zufällig eine (von Dante Alighieri) in drei Sprachen geschriebene Canzona, die zeigt, wie weit das Bedürfnis, Vielfalt, Komplexität und Koexistenz auszudrücken, in die Vergangenheit zurückreicht. Die Vergangenheit kann bisweilen überraschend sein: Über etwas hinauszugehen, der Versuch, die menschliche Wahrnehmung zu erforschen, eher Fragen zu finden als Antworten und der Entwurf einer politischen und kulturanthropologischen Vision schienen mir die Hauptpunkte zu sein, die in diesem Stück Literatur zum Ausdruck kommen.

Mein Diptychon, bestehend aus einem ersten kurzen Teil (VISIO) für drei Bratschen und einem zweiten Teil (FICTIO) für 24 Stimmen und drei Bratschen in einem separaten Raum, möchte einen Erinnerungsprozess auslösen und die gewohnte Art, Klänge in Zeit und Raum zu hören und wahrzunehmen, verändern.

Eine solche Hörperspektive wird durch den ersten Teil getriggert. Er stellt eine komprimierte Version des Werkes vor, die sich durch drei verschiedene Klangfarben bewegt (verschiedene Dämpfer reproduzieren ein Gefühl von Räumlichkeit). Der zweite (und Haupt-) Teil des Werks besteht aus vier Strophen, deren Form der Textstruktur folgt. Er schafft eine Interpolation zwischen zwei verschiedenen akustischen Situationen (die der Stimmen und die der elektronisch verstärkten Bratschen). Phasenverschiebungen der Zeit und Phasenverschiebungen der Akustik. Für die Gesangsstimmen gibt es viele verschiedene Arten der Klangerzeugung, um innerhalb der frontalen Aufstellung ein Gefühl von Räumlichkeit zu erzeugen: Echoeffekte, Veränderung der Klangprojektion, Aktionen mit den Händen, simulierte Resonanzeffekte.

(Valerio Sannicandro)